“Sprecht über eure Gefühle” – Interview mit Kinderpsychologin Svenja Chehade

Im Zuge der Zusammenarbeit an Eine Woche voll Glück, dem Glückstagebuch für Kinder, haben wir ein Interview mit Kinderpsychologin Svenja Chehade geführt. Sie hat uns mit ihrer Expertise dabei geholfen, das volle Potenzial aus unserem buch zu holen. Im Folgenden erzählt uns Svenja von ihrer Arbeit und weshalb Achtsamkeit für Kinder so wichtig ist.

Interview mit Kinderpsychologin Svenja Chehade

Liebe Svenja, du hast mich bei der Erstellung des Buches mit deiner Expertise und Erfahrung beraten. Dafür danke ich dir sehr! Was ist für dich das Besondere an dem Buch – was hat dich veranlasst, dich hier zu engagieren?

Ein besonders schöner Aspekt des Buches ist für mich, dass sich der erwachsene Tagebuchpartner die Zeit nimmt, mit dem Kind über einen längeren Zeitraum hinweg in dem Buch zu arbeiten. Zusätzlich werden beide darin geschult, auf wichtige und positive Aspekte wie Wünsche, Fähigkeiten und Stärken zu schauen. Das ist zum Einen wertvoll und zum anderen lehrreich – und zwar für beide Beteiligte. Das Buch ermuntert dazu, im Familienalltag die Zeit und Ruhe zu schaffen, um sich ganz exklusiv dem Kind und seinen Gedanken und Gefühlen zu widmen. Das ist etwas, das ich wirklich schön, wertvoll und lohnenswert finde.

Das Buch ermuntert Kinder, den Blick bewusst und liebevoll nach Innen zu richten. Sich mit sich selbst, seinen Stärken, Zielen und Erlebnissen auseinanderzusetzen, achtsam mit sich und anderen zu sein. Warum ist es aus deiner Sicht wichtig für ein Kind, das zu tun? Welche Vorteile hat das?

Allgemein ist es so, dass negative, störende Einflüsse im Alltag mit Kindern von Erwachsenen häufiger wahrgenommen und auch rückgemeldet werden, als positive Aspekte. Das liegt daran, dass Negatives eher bemerkt wird, weil es für Unruhe im Miteinander sorgt und so eben schneller zurückgemeldet wird.

Natürlich ist es wichtig, über Konflikte zu sprechen und zu versuchen, geeignete Lösungen zu finden. Gleichzeitig sollten Eltern den Fokus aber nicht nur auf das legen, was besser sein könnte. Sondern sie sollten sich auch den wesentlichen inneren Fragen des Kindes widmen: Was traue ich mir zu, wo möchte ich hin, was kann ich erreichen und wie schaffe ich das? Zu wissen, wer ich bin, was ich mag und was ich kann ist die Basis dafür, meine Wünsche und Ziele auch erreichen zu können. Denn dadurch bildet sich Selbstvertrauen. Und Selbstvertrauen ist eine der wichtigsten Eigenschaften überhaupt. Es hilft dem Kind, Grenzen zu setzen und die Grenzen anderer zu wahren. “Bis hierher und nicht weiter” sagen zu können, hängt davon ab, wie gut sich das Kind selber kennt.

Ich habe den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft sowohl Eltern als auch Lehrer noch viel zu wenig mit Kindern üben, mit positivem Blick auf sich selbst zu schauen, mehr über sich zu erfahren und sich etwas zuzutrauen. Deshalb habe ich das Buch entwickelt. Inwieweit teilst du meinen Eindruck? Was würde sich in der Gesellschaft verändern, wenn wir das häufiger und selbstverständlicher täten?

Ja, da stimme ich dir zu. Ich denke auch, dass wir als Gesellschaft aktuell nicht so gut im Blick haben, dass wir diese Dinge mit Kindern üben sollten. Ich führe das darauf zurück, dass es – wie zuvor schon gesagt – leichter fällt, negative, störende Einflüsse zu erkennen. Die Stärken von Kindern zu bemerken ist hingegen etwas komplexer, weniger leicht zu greifen.
Dabei würde es uns insgesamt gut tun, hierauf stärker zu achten. Dann dann blieben wir mehr bei uns, würden uns weniger davon leiten lassen, was andere von uns denken. Gerade vor dem Hintergrund von Social Media wäre das aber hilfreich für Kinder – weniger den Fokus auf die Meinung anderer zu legen und mehr bei sich zu bleiben, in sich zu ruhen.

Du arbeitest als Psychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendpsychatrie und Psychotherapie in Hamburg. In den Medien wird immer wieder die Frage aufgeworfen, warum der Bedarf für therapeutische Behandlungen steigt. Mein Gefühl ist, dass den Kindern dabei implizit vorgeworfen wird, sie seien „schwieriger“ und „auffälliger“ als in vorherigen Generationen. Was ist deine Meinung dazu? Und was können Eltern tun, um ihre Kinder stark und selbstbewusst werden zu lassen und damit u.U. auch einem Therapiebedarf vorzubeugen?

Ich glaube, hier gibt es zwei wesentliche Einflüsse: In einer Gesellschaft, die sich darum bemüht, immer schneller, effizienter und zielgerichteter zu sein, fallen Kinder mit ihrem ganz natürlichen kindlichen Verhalten eher negativ auf und stören. Lautstärke, motorische Unruhe, ständiges Nachfragen usw. sind ganz gesunde, natürliche kindliche Verhaltensweisen, die wichtige Entwicklungsschritte begleiten. In der Schule geht es aber eben nicht mehr darum, sich zu entdecken, Fragen zu stellen, zu explorieren… Hier gibt es einen Lehrplan, der inzwischen sogar in verkürzter Zeit eingehalten werden muss. Damit bleibt weniger Raum für alles, was nicht in diesem Lehrplan enthalten ist. Auf diese Weise ecken Kinder eher an, fallen schneller aus der Norm.

Der andere Grund, warum Psychotherapieangebote für Kinder heute häufiger wahrgenommen werden als früher, liegt darin, dass Eltern inzwischen eher bereit sind, sich Hilfe zu holen. Auszusprechen, dass es Probleme gibt. Etwas, das Familien sich früher weniger häufig eingestanden haben und eher unter den Teppich kehrten. Heute ist es glücklicherweise akzeptierter, zuzugeben, dass es Herausforderungen gibt.

Eltern können ihr Kind durch schwierige Phasen adäquat begleiten und ihr Selbstbewusstsein natürlich stärken, indem sie mit ihrem Kind über seine Gefühle sprechen. Ganz besonders auch über negative Gefühle. Zuhören, nicht bewerten, anerkennen, was das Kind empfindet und signalisieren: Ich bin für dich da. Ich sehe dich.

In so einem Gespräch sind zum Beispiel Fragen hilfreich, die auch Eingang in das Tagebuch gefunden haben: Wie fühlt sich das an? Wie merkst du, ob du etwas möchtest oder nicht? Was könntest du nächstes Mal anders machen? Wie kann ich dir helfen?

Wenn Eltern so mit ihrem Kind im Gespräch sind und das möglichst regelmäßig, dann wird eine Psychotherapie meist nicht notwendig sein.

Das Buch wird ja vom Kind und einem erwachsenen „Tagebuchpartner“ gemeinsam ausgefüllt. Hat das regelmäßige gemeinsame Beantworten der Tagebuchfragen auch eine Auswirkung auf die Beziehung von Tagebuchkind und Tagebuchpartner? Warum?

Das Buch entfaltet seine tiefere Wirkung ja über die Wiederholung der Themen und Fragen über einen längeren Zeitraum hinweg. Erst über die Zeit und die Wiederholung wird Veränderung geschaffen, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen automatisiert und geschult. Das ist die Stärke des Kindertagebuches und auch das, was die Beziehung von Kind und Erwachsenem – sicherlich auch über die Arbeit am Tagebuch hinausgehend – förderlich ist. Die Entdeckungsreise des Kindes zu begleiten, sich mit dem Kind auszutauschen, sich in die kindlichen Bedürfnisse hineinzuversetzen, die oft gar nicht unbedingt nur kindlich, sondern menschlich sind – das ist ein unheimlich schöner und wertvoller Prozess, von dem zweifellos beide gleichermaßen profitieren.

Liebe Svenja, herzlichen Dank für das schöne Interview und deine Unterstützung bei der Erstellung des Tagebuchs!

Ihr wollt nach diesem Interview mit Kinderpsychologin Svenja Chehade noch mehr über unser Buch erfahren? Dann gelangt ihr hier zu Eine Woche voller Glück.

Außerdem haben wir ein weiteres Interview geführt, mit Grundschullehrerin Jasmin Veronese, zu dem ihr hier gelangt.

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